Fundstücke aus dem Landesarchiv Berlin, Folge 16

Fundstücke aus dem Landesarchiv Berlin, Folge 16

… as American, British, French, and Soviet forces occupied Germany, they orchestrated the largest-scale technology transfer program in history, aimed at almost every field of industrial technology and academic science. Swarms of investigators recruited from industry, military branches, and intellegience agencies scoured Germany’s factories and research institutions. They seized or copied all kinds of documents, from patent applications to factory production data to science jounals. They questionned, hired, and sometimes even kidnappd hundreds of scientists, engeneers, and other technical personnel.“[1] schreibt der Historiker Douglas M. O’Reagan 2019 in seinem Buch über die „Exploitation of German Science“ nach dem 2. Weltkrieg. Ausführlich stellt er die Bemühungen der Amerikaner, Briten, Franzosen und Sowjets dar, sich in Deutschland so viel technische Forschung anzueignen wie möglich. Es war also keineswegs nur die Sowjetunion, die auf technische Unterlagen scharf war und sie mitnahm, wo sie konnte, so ja auch aus ganz Berlin vor dem Einzug der anderen Alliierten in Berlin Anfang Juli 1945.
Nicht nur in LKVO/OSW und im NEF waren Ingenieure, die über Russischkenntnisse verfügten, damit beschäftigt, Fertigungsunterlagen, Bedienungsanleitungen, technische Berichte etc. zu übersetzen. 1946 erzielte das LKVO 37% seines Umsatzes mit der 5. Russischen Hauptverwaltung, insgesamt 3,214 Mio RM, mit der Lieferung von – weitgehend – übersetzten Fertigungsunterlagen und technischen Dokumentationen. Auch 1947 spielen die in die Sowjetunion gelieferten Fertigungsunterlagen in Höhe von 3,044 Mio RM noch eine wichtige Rolle für den Gesamtumsatz. 1948 wird die Lieferung von technischen Unterlagen nicht mehr aufgeführt, allerdings gibt es in der Bilanz für 1948 auf dem deutsch-russischen Bilanzformular „Bericht über Herstellung, Realisation und Reste der Warenproduktion für das Jahr 1948“ den Posten „Außerdem lt. Bestellungen der NTO“, [2]  der 71% der 7,174 Mio. des mit Warenproduktion erzielten Umsatzes ausmachte. Um welche NTO es sich handelte, wird leider nicht erwähnt. NTO (Nauchno-teknicheskii otdel) waren wissenschaftlich-technische Abteilungen der Ministerien, die die wissenschaftliche Forschung in der Sowjetzone koordinieren sollten.[3]
Auch beim NEF dürfte ein großer Teil des Umsatzes mit der Übersetzung von Fertigungsunterlagen für die Sowjetunion erzielt worden sein. Ein Indiz dafür sind die Fotos aus dem Büro für technische Information, der Lichtpauserei und der Vervielfältigungsabteilung in dem NEF-Fotoalbum von 1946.[4]

Was mit den Mengen von Fertigungsunterlagen, die von LKVO und NEF in die Sowjetunion geliefert wurden, eigentlich passiert ist, ist leider noch nicht erforscht worden. Ein Grund dafür dürfte selbst in den Jahrzehnten, wo Russland und die BRD ein entspannteres Verhältnis zueinander hatten, die Sprachbarriere gewesen sein.  Welcher deutsche Historiker wollte sich durch die Aktenberge im Russischen Staatlichen Wirtschaftsarchiv (RGAE) in Moskau durcharbeiten, zumal sich die deutsche Geschichtsforschung nach 1990 doch eher auf die durch die SED hervorgerufenen Probleme konzentrierte und die Zeit 1945-1949 nicht im ihrem Fokus stand.

Und auch von russischer Seite dürfte es nun nicht so spannend gewesen sein, zu erforschen, inwieweit deutsches Know-How dazu beigetragen haben könnte, die sowjetische Wirtschaft nach 1945 wieder anzukurbeln. Aber zumindest für die sowjetische Autoindustrie beschäftigte sich ein russischer Historiker, Andrej Minjuk, mit deutschen Betriebsanlagen und Technologien 1945 bis 1950. Sein Aufsatz wurde 2002 auch auf Deutsch veröffentlicht.[5]

Auch wenn sich die Ergebnisse von Minjuks Forschungen nicht 1:1 auf die Elektrotechnik übertragen lassen, so dürfte das eine oder andere ebenso auf die Elektrotechnik, speziell Röhrentechnologie zutreffen. Auch vom Ministerium für Automobilbau wurden technische Konstruktionsbüros – zumeist in ehemaligen deutschen Fahrzeugfabriken – eingerichtet, so wie das LKVO vom Ministerium für Elektrotechnik in einer Röhrenfabrik und das NEF vom Ministerium für Nachrichtenmittel in einem Fernmeldewerk. Geleitet von einigen sowjetische Spezialisten arbeiten dort deutsche Wissenschaftler, Techniker, Konstrukteure und Arbeiter. Ebenso wie im LKVO/OSW und NEF war zunächst die Übermittlung technischer Dokumentationen, Fertigungsunterlagen, Konstruktionszeichnungen etc. die Hauptaufgabe dieser Büros. Im Laufe des Jahres 1946 wurden schon einige dieser Konstruktionsbüros aus der Automobilindustrie wieder aufgelöst, sie hatten ihre Aufgabe, die vorhandenen Unterlagen zu übermitteln, erfüllt.
Den technischen Büros übergeordnet war eine vom Ministerium für Automobilbau gegründete wissenschaftlich-technische Abteilung (WTA), die auch die Konstruktionsaufgaben für die technischen Konstruktionsbüros vorschlug.[6] Genauso gab es bis 1949 im Peter-Behrens-Bau eine technische-wissenschaftliche Abteilung des Ministeriums für Nachrichtenmittel-Industrie,[7] die u.a. auch für das NEF zuständig  war.
Es zeigte sich aber, dass die sowjetischen Automobilkonstrukteure zwar die deutschen Konstruktionsunterlagen zur Kenntnis nahmen, einige auch nutzten, aber keineswegs die sowjetische Automobilindustrie plötzlich ‚Deutsch‘ geprägt wurde. Zum Teil lag es auch daran, dass zwar Zentnerweise Unterlagen in die Sowjetunion geschickt wurden, aber dort keine effektiven Verteilungsstrukturen bestanden, die Unterlagen also nicht die erreichten, die sie hätten brauchen können.

Wenig Interesse bestand bei den sowjetischen Fabriken an den in den technischen Büros entwickelten Konstruktion, Motoren etc. Die wissenschaftliche-Technische Abteilung in Deutschland, die die Themen vorschlug, war einfach zu weit weg vom sowjetischen Markt und der sowjetischen Produktion, um zu wissen, was wirklich gebraucht wurde.[8] Es ist fraglich, ob die Aufträge der jeweils für OSW und NEF zuständigen wissenschaftliche-technischen Abteilungen der entsprechenden Ministerien mehr in der Sowjetunion geschätzt wurden.

Allgemein stellte sich aber bei allen, die geglaubt hatten, dass das Anhäufen von deutschen Fertigungsanlagen gleichzusetzen wäre mit Wissenstransfer, seien es nun Amerikaner, Briten oder Sowjets, im Laufe von 1946/47 eine gewisse Ernüchterung ein. Es zeigte sich, dass die meisten Unternehmen in den Heimatländern der Alliierten nicht so recht wussten, was sie mit der Fülle von Fertigungsunterlagen, technischen Zeichnungen etc. anfangen sollten. Bei  der Umsetzung ergab sich nämlich häufig, dass auch die Köpfe, die das hervorgebracht hatten, dazu gebraucht wurden.[9] Die Sowjetunion löste das Problem bekanntlich zumindest teilweise, indem sie mit der ‚Aktion Ossawakim’ die ihnen an den wichtigsten erscheinenden Leuten in die Sowjetunion zwangsverpflichteten.[10] Damit wollte sie den Abwerbungsversuchen der anderen Alliierten zuvorkommen, die auch auf die ‚Köpfe‘ scharf waren. Ähnlich gingen die USA bei der ‚Operation Overcast‘[11] vor.

Als Fazit lässt sich für das OSW ab 1947 sagen, dass es offensichtlich als wissenschaftlich-technisches Konstruktionsbüro seinen Zweck erfüllt hatte. Die Sowjetunion hatte die Unterlagen von AEG und Siemens übersetzt geliefert bekommen und sich die Arbeitskraft der wichtigsten Köpfe in der Röhrentechnologie durch die Aktion „Ossawakim“ gesichert, im Prinzip war das OSW überflüssig geworden und hätte auch aufgelöst werden können.

Dass es nicht dazu kam, lag an einem Wechsel in der Politik der Sowjetunion gegenüber ihrer Besatzungszone. Zuerst hatte sie auf Teufel komm raus demontiert, egal, ob das Demontagegut in der Sowjetunion verwertet werden konnte oder nicht. Hintergrund dieses Vorgehens war auch eine Art Politik der verbrannten Erde, man ging davon aus, dass man diese Besatzungszone bald wieder los sein würde und wollte sicherstellen, dass die Deutschen nie wieder zu einer Gefahr werde könnten, weshalb man ihre Industrie zerstörte. 1946 setzte allmählich en Umschwung ein, auch infolge des einsetzenden kalten Krieges. Es zeichnete sich ab, dass man wohl doch längere Zeit für diese Besatzungszone zuständig sein würde und man auch dafür sorgen musste, dass die Bevölkerung dort Arbeit hatte, um sich zu ernähren. Insofern setzte sich der Gedanke durch, dass es sinnvoller sei, die Deutschen vor Ort arbeiten zu lassen und einen Teil ihrer Produktion in die Sowjetunion zu exportieren. Da das OSW 1947 neben seinem Konstruktionsbüro – dem Versuchswerk – mit 8000 qm auch über ein Fertigungswerk mit 5.800 qm verfügte,[12] war die Überlegung naheliegend, die Fertigung weiter auszubauen und es, seiner ‚systemrelevanten Produktion‘ wegen, der für Elektrotechnik zuständigen SAG „Isolator“ einzuverleiben.

(Fortsetzung folgt)

Das Foto stammt aus dem Fotoalbum des NEF, das in der 1. Hälfte 1946 für die WTA des Ministeriums für Nachrichtenmittel angefertigt wurde und zeigt die Abt. Technische Dokumentation

[1] Douglas M. O’Reagan, Taking Nazi Technology – Allied Exploitation of German Science after the Second World War, Baltimore 2019, S.2.

[2] Geschäftsbericht für das Jahr 1948, LAB, Rep. C 404, Nr. 154, o.P.

[3] Vergl. O’Reagan, Allied Exploitation, S. 113.

[4] Vergl. Blogbeitrag ‚Aus der Geschichte des WF, Folge 9‘ vom 8.5.2021 auf der Webseite „WF-Museum.de“ (https://wf-museum.de/aus-der-geschichte-des-wf-folge-9/)

[5] Andrej Minjuk, Deutsche Betriebsanlagen und Technologien in der sowjetischen Automobilindustrie 1945-1950, in: Sowjetische Demontagen in Deutschland 1944-1949, Hintergründe, Ziele und Wirkungen, hg. Von Rainer Karlsch u. Jochen Laufer, Berlin 2002, S. 147-186.

[6] Vergl. Minjuk, Automobilindustrie, S. 178-180.

[7] Vergl. Anordnung Nr. 25/49 für das Werk für fernmeldewese ‚HF‘ der Zweigniederlassug der Staatliche n Aktien-ges. ‚Kabel‘ und für die WTA des Ministeriums für Nachrichtenmittel-Industrie, 16.11.1949, unterzeichnet vom Leiter des WTA, Galdin, und dem Generaldirektor des HF, Glybin, LAB Rep. C 404, Nr.26, o.P.

[8] Vergl. Minjuk, Automobilindustrie, S. 181.

[9] Vergl. O’Reagan, Exploitation, S. 3.

[10] Vergl. Blogbeitrag „aus der geschichte des WF, Folge 5“ vom 12.3.2021 auf der Webseite „WF-Museum.de“ (https://wf-museum.de/aus-der-geschichte-des-wf-folge-6/)

[11] Art. Operation Overcast, in: Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Overcast), Abruf: 20.3.2023.

[12] Vergl. Geschäftsbericht für das Jahr 1947, S. 4, Industriesalon, Nr. 70047.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von WF-Museum

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen