Berlin Schöneweide
Der Berliner Stadtteil Schöneweide liegt im Südosten Berlins und wird durch die Spree in Oberschöneweide und Niederschöneweide geteilt. Vor der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten war hier einer der größten Industriestandorte Europas. Zu DDR-Zeiten arbeiteten hier rund 25.000 Menschen in fünf Großbetrieben entlang der Wilhelminenhofstraße. Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten mussten dann nahezu alle Großbetriebe schließen. Seitdem stehen die meisten der riesigen Fabrikgebäude größtenteils leer, 1991 wurden diese „Industriekathedralen“ unter Denkmalschutz gestellt. Seit einigen Jahren wandelt sich der Standort zu einem Universitäts- und Kreativzentrum. Das alte Kabelwerk wurde zum Campus der Hochschule für Technik und Wirtschaft – HTW. Einige noch existierende Ausgründungen aus den DDR Betrieben behaupten sich auf dem internationalen Markt. Zahlreiche Kreative – Designer, Künstler, Filmemacher etc. siedeln sich in Schöneweide an und prägen zunehmend das Erscheinungsbild des Stadtteils.
AEG Zeit
Oberschöneweide ist ein Ort mit langer Tradition für innovative Technologien, der ganz stark von der Firma AEG geprägt wurde. Die AEG errichtete hier das erste Drehstromkraftwerk Europas, das 1897 den Betrieb aufnahm, und parallel dazu in unmittelbarer Nachbarschaft das Kabelwerk Oberspree (KWO). 1903 startete die AEG zudem eine Automobilfabrik (Nationale Automobil Gesellschaft, NAG), in der schon Anfang des 20. Jahrhunderts u. a. Elektroautos produziert wurden. Der Architekt Peter Behrens entwarf 1916/17 ein Gebäude für die AEG, das mit seinem Turm bis heute das architektonische Highlight des Stadtteils darstellt. 1921 kam ein weiteres AEG-Unternehmen hinzu, das Transformatorenwerk Oberspree (TRO). Oberschöneweide war nun zu einem der größten Standorte der Elektrotechnikindustrie in Europa herangewachsen. 1938 eröffnete die AEG im Behrensbau anstelle der 1934 geschlossenen NAG ein Werk für Elektronenröhren (Röhrenfabrik Oberspree, RFO), quasi die Keimzelle des späteren Werks für Fernsehindustrie. Telefunken hatte hier bereits 1936 einen zentralen Reklamations- und Wartungsservice für Rundfunkgeräte und Bildröhren eingerichtet. 1945 endete die Geschichte von AEG-Telefunken in Oberschöneweide, da dieser Ortsteil nun im sowjetischen Sektor lag.
Nachkriegszeit
In den Berliner Westsektoren bedeutete das Ende des 2. Weltkriegs weitgehend das Ende der elektrotechnischen Produktionsstätten, denn AEG, Telefunken, die C. Lorenz AG und Siemens verlegten sowohl ihre Hauptsitze als auch einen Großteil der Produktion nach Westdeutschland. Im Osten Berlins dagegen sollte Oberschöneweide mit seinen drei großen Werken TRO, KWO und WF (Werk für Fernsehelektronik) noch für lange Zeit das Zentrum der ostdeutschen Elektrotechnik bleiben.
Bereits zum 1.8.1945 gründete die SMAD (Sowjetische Militäradministration in Deutschland) im Gebäude des ehemaligen RFO das „Labor- Konstruktionsbüro und Versuchswerk Oberspree“ (LVKO) unter Hinzuziehung führender Techniker und Ingenieure, die bis Kriegsende für Telefunken gearbeitet hatten. Die Sowjets wollten so von dem vorhandenen Können und Wissen der Berliner Elektrotechnik und Rüstungsindustrie profitieren und die sowjetische Nachrichtentechnologie voranbringen. Zu den ersten Mitarbeitern gehörte bis Oktober 1946 auch Walter Bruch, der später in Westdeutschland das PAL-Fernsehen entwickelte. Ab Mai 1946 hieß das LKVO dann „Oberspreewerk“ (OSW) und war bis 1952 eine SAG (Sowjetische Aktiengesellschaft), dann wurde es der DDR übertragen und zum „VEB Werk für Fernmeldewesen“ (HF später WF). 1960 erfolgte die Umbenennung in „Werk für Fernsehelektronik“ (WF).
DDR bis zur Wende
1960 erfolgte die Umbenennung in Werk für Fernsehelektronik (WF). Obwohl es nach und nach im Kontext der staatlichen Wirtschaftslenkung viele Produktionsbereiche an andere Werke abgeben musste, blieb es mit etwa 9.000 Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen der größte volkseigene Betrieb (VEB) Ost-Berlins und größter Betrieb der Bauelementeindustrie in der DDR. Die Produktpalette war riesig: Elektronenröhren aller Art, Messgeräte, Optoelektronik, Halbleitertechnik – WF-Produkte wurden in der DDR und im Ostblock verwendet für Sende-und Empfangsanlagen, Radioapparate, Kameras, Elektronenmikroskope, Wetterstationen, Raketenköpfe und nicht zuletzt Fernsehapparate, denn das WF war auch alleiniger Produzent
von Fernsehbildröhren in der DDR.
Zugleich war es eines der führenden Forschungs- und Entwicklungszentren für elektronische Bauelemente in der DDR. Da der Westen ein striktes Embargo für High-Tech-Produkte verhängt hatte, musste mit eigenen Entwicklungen der Anschluss an den technologischen Fortschritt gehalten werden. Davon zeugen rund 2.000 Forschungs- und Entwicklungsberichte, die sich heute im Archiv des Industriesalons befinden, sowie über 1.000 angemeldete Patente. Allerdings durfte das WF nicht alles produzieren, was es entwickelte. So brachte Peter Neidhardt (1912–1973) Ende der 50er-Jahre eine Bildröhre für Farbfernseher bis zur Produktionsreife, die jedoch nie in Produktion ging, weil Farbbildröhren nur vom „großen sozialistischen Bruderstaat“ Sowjetunion geliefert werden sollten. Zu den exotischeren Produkten des WF gehörte die 1954 entwickelte elektronische Orgel EKI 1 mit ihren 250 Elektronenröhren. Eine dieser Orgeln war von 1961 bis 1989 in der Komischen Oper Berlin im Einsatz, dieses Exemplar befindet sich heute im Industriesalon. Aus dem WF kamen sogar digitale Wohnraumuhren und Campinggrills, denn für die großen Betriebe in der DDR war es Pflicht, nebenbei auch Konsumgüter herzustellen.
Wendezeit und Gründung des Industriesalons Schöneweide
Wie auch beim KWO und dem TRO führte die Wende zum Niedergang des WFs, verbunden mit einem starken Mitarbeiterabbau. 1993 übernahm Samsung Korea das WF und ließ hier noch bis 2005 Bildröhren produzieren, dann wurde das Werk geschlossen und das Gelände 2009 an die Comer-Group verkauft. Bereits zuvor, in der 2. Hälfte der 80er Jahre waren von engagierten Mitarbeitern des WF Materialen (Objekte, Akten, Fotos, Zeitschriften und vieles mehr) gesammelt worden. 1990 entstand im Turm des Peter-Behrens-Baus dann das Betriebsmuseum „Technik im Turm“, in dem alte Maschinen, Röhren und vieles andere, das zur Geschichte des WFs gehörte, präsentiert wurden. 1994 wurde das Museum geschlossen und die Bestände wurden eingelagert. 2009 sollten sie dann in den Müll entsorgt werden.
Dem daraufhin noch im gleichen Jahr eilig gegründeten Verein Industriesalon Schöneweide e.V. gelang es jedoch in letzter Minute, diese letzten Zeugnisse der ehemaligen Großproduktion aus dem WF zu retten und in einer Ausstellungshalle auf dem ehemaligen TRO-Gelände neu zu präsentieren. Der Verein war ein „Bottom Up“ Projekt von Berlinern aus Ost und West, zu den Gründungsmitgliedern gehörten zudem lokal ansässige Unternehmen, die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW), Denkmalschützer und Fachleute aus dem Bereich Industriekultur. Schwerpunkt der Museumsarbeit im Industriesalon ist die Erforschung und Bewahrung der Industriekultur von Schöneweide und deren Vermittlung vor Ort. Im Industriesalon befindet sich mit den Objekten und dem Archiv des WF die größte erhaltene Sammlung zur Firmengeschichte eines der großen elektrotechnischen Industrie-Werke im ehemaligen „Elektropolis“ Oberschöneweide.
Gerettet worden war auch das Fotoarchiv des WF, das von dem WF-Fotografen Hans Joachim Köhler betreut wurde. Er war von 1945 bis zu seiner Pensionierung 1978 als Leiter der Fotostelle tätig. Außerdem gab es zumindest in den Außenstellen des WF weitere Fotografinnen und Fotografen, deren Aufnahmen auch in das Archiv aufgenommen wurden. In diesem Fotoarchiv sind rund 25.000 Fotos und Fotonegative erhalten. Archiviert sind vor allem Aufnahmen von neu entwickelten elektronischen Bauteilen und Geräten, die für die Forschungs- und Entwicklungsberichte der verschiedenen Abteilungen des WF angefertigt wurden. Es gibt aber auch viele Fotos von Beschäftigten bei ihrer Arbeit und Bilder aus dem sprichwörtlichen „Mikrokosmos“, den jeder größere volkseigene Betrieb in der DDR bildete. Dazu gehörten Kindertagesstätte, Betriebsfeuerwehr, Schusterei, Einkaufsladen, Poliklinik und vieles mehr. In dieser Hinsicht erzählen die Fotos des Archivs nicht nur spezifische Geschichten des WF, sondern erzählen auch exemplarisch vom Leben, vom Alltag in der DDR.
Dank einer Förderung der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa im Rahmen des
digiS-Programms konnte der Industriesalon einen repräsentativen Teil des Fotoarchives digitalisieren und so der Öffentlichkeit präsentieren.
Der im September 2020 im Sutton-Verlag veröffentlichte Fotoband „Röhren aus Schöneweide – Fernsehelektronik für die Republik“ zeigt eine Auswahl von Fotos aus diesem Archiv. Es ist entstanden aus einer Ausstellung zur Geschichte des WF, die 2019 im Industriesalon Schöneweide gezeigt wurde.