Brigadebücher im Industriesalon – Teil 2

Brigadebücher im Industriesalon – Teil 2

„Die Brigadebücher widerspiegeln zunehmend Vielfalt des Kollektivlebens“[1], lautete die Überschrift eines Artikels über die Ausführungen eines Mitglieds der Kulturkommission der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL), die 35 Brigadebücher aus dem WF für das das Jahr 1979 eingesammelt und im Rahmen eines Wettbewerbs bewertet hatte.

„Es zeigte sich, dass die Brigadebücher der Produktionskollektive in den Werkteilen Röhren, Diode und Bildröhre ein wirkliches Bild vom Brigadeleben vermitteln und Auskunft geben über die Erfüllung der Verpflichtungen im Kampf um den Staatstitel.“[2]

Ob die Feststellung, dass diese Brigadebücher „ein wirkliches Bild vom Brigadeleben“ vermittelten, so stimmte oder eher dem Wunschdenken der BGL entsprach, sei dahingestellt, aber ein wichtiger Aspekt wird in diesem Artikel genannt. Zu den Fleißpunkten, die ein Kollektiv erbringen musste, um den Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ zu bekommen, war neben der Planerfüllung, besser noch Übererfüllung u.a. auch die Führung eines Brigadebuchs.
Alle im Industriesalon erhaltenen Brigadebücher wurden von Brigaden/ Kollektiven geführt, die sich im ‚Kampf‘ um den begehrten Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ befanden, versprach dieser Titel doch höhere Prämien für die Mitglieder.

Nachdem 1959 der Titel „Brigade der sozialistischen Arbeit“ eingeführt worden war, den aber nur Brigaden in der Produktion erlangen konnten, gab es zunehmend Beschwerden von den Kollektiven in Forschung, Verwaltung, Instandhaltung etc., die auch an diesem Prämiensegen teilhaben wollten, weshalb ab 1962 der Kreis der Auserwählten vergrößert und der begehrte Titel in „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ umbenannt wurde.
Allerdings wurde dieser Titel in den 1980er Jahren doch recht inflationär vergeben, was sich auch den verliehenen Urkunden widerspiegelte. [3]

Die Brigade und das Kollektiv als Arbeitseinheit in den DDR-Betrieben waren Ausdruck des massiven Kollektivierungsbestrebens der Staatsführung und sollte seit dem „Bitterfelder Weg“ Ende der 1950er Jahre als Keimzelle der sozialistischen Persönlichkeitsbildung in der DDR dienen, wo die Trennung von Arbeit und Freizeit zugunsten eines solidarischen Miteinanders in allen Lebensbereichen überwunden werden sollte. Das Ziel war eine Gemeinschaftserfahrung unter rein sozialistischen Werten, zu denen die Forderung nach permanenter Produktionssteigerung- und -verbesserung gehörte sowie die Verhinderung jeglicher Konkurrenz- und Individualbestrebungen, die besonders in der Arbeitswelt als Bedrohung galten. In den Brigaden sollten „sozialistische Persönlichkeiten“ herangebildet werden, die vor allem durch und für das Kollektiv leben und arbeiten sollten. „Sozialistisch arbeiten, sozialistisch lernen und sozialistisch leben“ hieß die Devise, die sich auch in der Gliederung etlicher Brigadebücher widerspiegelte, z. B. in der monatlichen Übersicht über die Aktivitäten in den Brigadebüchern der Kollektivs „Target“. Durch diese vom Staat gestellten ideologischen Anforderungen an Brigaden und Kollektiven, die von den BGL durchgesetzt werden sollten, unterschieden sich Brigaden und Kollektiven in der DDR von festen Arbeitsteams in westdeutschen Unternehmen. Es war staatlich gewünscht, dass die Zugehörigkeit zu Brigade / Kollektiv auch in den Privatbereich hineinwirkte.

Trotz Überwachung und institutionalisierter Bespitzelung entwickelte sich in den Brigaden / Kollektiven oft ein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl jenseits politischer Zwänge: mit den Brigademitgliedern und deren Familien traf man sich zu feuchtfröhliche Feiern mit Tanz und Gesang, man unternahm Ausflüge und Reisen und half sich gegenseitig so gut es ging bei den Herausforderungen in der Mangelwirtschaft. Bis heute denken viele ehemalige Brigademitglieder mit Wehmut an diesen sozialen Zusammenhalt zurück,[4] das bestätigen uns auch die „Ehemaligen“ des WF, die im Industriesalon verkehren. Das Brigadebuch (auch: Brigadetagebuch, Brigadechronik) war dabei das Medium, in dem sowohl die offiziellen als auch gemeinsame Freizeitaktivitäten festgehalten werden sollten.

Die Abbildung stammt aus dem Brigadebuch des Kollektivs „Marie Curie“ im WF aus den Jahren 1972/73.[5]

(Fortsetzung folgt)

[1] WF-Sender 12/80, S. 3.

[2] Ebd.

[3] https://library.fes.de/FDGB-Lexikon/texte/sachteil/k/Kollektiv_der_sozialistischen_Arbeit.html

[4] vgl. dazu das Deutschlandfunk Hörfeature über Brigaden in der DDR: https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-welt-der-brigaden-in-der-ddr-diese-erfahrungen-moechte.976.de.html?dram:article_id=500948&utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

[5] https://berlin.museum-digital.de/object/114919?&suinin=29&suinsa=861

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