Mögliche seelische Schäden bei Krippen- und Kindergartenkindern in der DDR
1953 bis 1957 untersuchte die Medizinerin Eva Schmidt-Kolmer den Entwicklungsstand von 1789 Krippenkindern, davon 439 aus Wochenkrippen, und kam zu dem Ergebnis, dass bei vielen Wochenkrippenkindern die Entwicklung retardiert war, vor allem was Sprache und Bewegung anging. „Nach der Auswertung der Ergebnisse wurde konstatiert, dass die Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Essen, Schlaf und Gesundheit für eine normale Entwicklung des Kindes nicht genügt. Dafür benötigt es eine verlässliche Bindung zu mindestens einem Erwachsenen.“[1]
Wurden in den nächsten Jahren auch die psychischen Folgen der Unterbringung in den Wochenkrippen noch diskutiert, so war das nach dem Mauerbau kein Thema mehr. Aber Aspekte wie die retardierte Bewegungsentwicklung fanden in dem verbindlichen Erziehungsprogramm für Krippen, welches das „Institut für Hygiene des Kindes- und Jugendalters“, dessen Direktorin Kolmer 1966 bis 1974 war, verfasst hatte. Eine weitere Studie Kolmers in den Jahren 1973 bis 1975 an 6426 Krippenkindern, darunter 890 Wochenkinderkrippen, zeigte, dass zwar prozentual im Vergleich zu ihrer ersten Studie in den 1950er Jahren der Anteil Wochenkrippen, deren Sprach- und Motorikentwicklung zurückgeblieben waren, etwas gesunken war, es sie aber immer noch gab. Bei dieser Studie wurde erstmals auch der familiäre Hintergrund mituntersucht. „Dabei zeigte sich, dass in Wochenkrippen der Anteil von Säuglingen, ebenso wie der Anteil alleinerziehender oder geschiedener Mütter, deutlich höher war als in Tageskrippen. Auch unterschied sich das Bildungsniveau der Eltern in beiden Betreuungsformen wesentlich zugunsten der Tageskrippen.[2] Offensichtlich war die Unterbringung von Kleinkindern in Wochenheimen auch ein soziales Problem.
Erst seit den 2010 Jahre beschäftigten und beschäftigen sich Forschungsprojekte mit den seelischen Schäden von ehemaligen Wochenkrippenkindern, die sich in Depressionen, Bindungsängsten, Angststörungen und anderes psychischen Problemen bis ins hohe Erwachsenenalter hinein äußerten und äußern.
Zu einem großen Teil werden diese psychischen Probleme auf das Fehlen von festen Bezugspersonen und einer fehlenden Bindung zu den Eltern, hier insbesondere zu den Müttern zurückgeführt. Die Forschungsergebnisse beruhen zu einem großen Teil auf Fragebögen und Interviews mit ehemaligen Wochenkrippenkindern, die Aufrufen der Forscherteams gefolgt waren, sich zu melden, und Auswertungen der Akten des DDR-Ministeriums für Gesundheitswesen, das für das Krippenwesen zuständig war.
Manche dieser interviewten Wochenkrippenkinder bewerteten ihren Aufenthalt in Wochenkrippe und Kinderwochenheim besser als den zu Hause, blieben sie in den Kinderbetreuungseinrichtungen zumindest von häuslicher Gewalt verschont.[3]
Wie viel Kinder die WF-Wochenkrippen mit psychischen Schäden verließen, ist dem WF-Sender nicht zu entnehmen, was aber wiederholt als Problem auch in der Betriebszeitung angesprochen wird, ist die fehlende Bindung der Eltern an die Kinder.
1955 beklagte sich die Betriebsfeuerwehr des HF, dass sie 1954 17 Mal von der Kinderkrippe gerufen worden war, um am Freitagabend Krippenkinder nach Hause zu bringen, weil ihre Eltern vergessen hatten, sie abzuholen. Bei 2 Fällen wurden die Eltern nicht zu Hause angetroffen, sodass dann Mitglieder der Betriebsfeuerwehr die Kinder mit nach Hause nahmen.[4]
Auch das Interesse der Wochenkrippe und -heim-Eltern, zu Elternabenden oder Feiern in der Wochenkrippe oder in Wochenheim aufzutauchen, war relativ gering.
1955 konstatierte der HF-Sender: „Bedauerlicherweise gibt es einige Eltern, die glauben, durch den Kindergarten ihrer Erziehungs- und Sorgepflicht enthoben zu sein. Es würde sonst nicht verkommen, […] daß den Kindern unausgebesserte Wäsche für die Woche mitgegeben wird, so daß die Erziehungskräfte gezwungen sind, diese außer ihrer Erziehungsarbeit noch zu flicken und zu stopfen. Es könnte ferner auch nicht vorkommen, daß Mütter den geringen Kostenanteil für den Kindergarten monatelang nicht bezahlen oder zu den Elternversammlungen nicht erscheinen. […] wenn eine Mutter eine gute Erziehungsarbeit im Kindergarten verlangt, muß sie selbst ihrer Pflicht als Mutter nachkommen.“[5]
In einem Bricht über die Feiern des 1. Juni 1968 in den Kinderbetreuungseinrichtungen des HF vermerkt der HF-Sender recht lakonisch, dass sich die Erzieherinnen im Wochenheim „Neue Mühle“ viel Mühe gegeben hätten bei den Vorbereitungen, aber dies mit Freude, weil ihnen an den Kindern etwas läge. „Vielleicht würden sie auch noch mehr Freude daran haben, wenn die Eltern dieser Kinder in „Neue Mühle“ gemeinsam mit den Erzieherinnen über pädagogische Fragen beraten würden. Oft sind große Schwierigkeiten zu beseitigen, denen die Erzieherinnen manchmal machtlos gegenüberstehen.“[6]
„Warum waren so wenig Muttis da“,[7] lautete ein Artikel im WF-Sender über einen Elternabend für die Gruppe der 3-Jährigen im Wochenkinderheim „Neu Mühle“. Der extra im Kultursaal des Wf stattfand. Nur 2 Mütter waren gekommen, bei einer Gruppenstärke von 16 Kindern. Zwei Jahre später beschwerten sich zwei Mitglieder der ehrenamtlichen Heimkommission der Kinderkrippe „Ethel und Julius Rosenberg“, dass ca. 80 % der Eltern sich nicht für das Leben ihrer Kinder in der Krippe interessierten. [8]
„Folgen des DDR-Kitasystems – Viele leiden unter Depressionen und Angststörungen“ lautete eine Überschrift im Tagesspiegel vom 4.6.2023 zu einem ausführlichen Artikel über die Wochenkrippen in der DDR. Im Untertitel erfährt der Leser, dass es gar nicht um die Kindertagesstätten (Kita) geht, sondern um die Wochenkrippen. „In der DDR waren Wochenkrippen üblich, die Kinder sahen ihre Eltern von Montag bis Freitag nicht. Die Psychologin Eva Fleming erforscht. Wie die Kleinen dadurch fürs Leben geprägt wurden.“[9]
So ganz unkommentiert kann man diese Überschrift nicht im Raum stehen lassen. Zum einen dürfte die Qualität der Fremdbetreuung genau wie im Westen von einzelnen Erzieherinnen / Pflegerinnen abgehangen haben, die einen liebten ihren Job und blieben lange in derselben Krippe, die anderen schätzten ihren Beruf etwas weniger. Auch die Ausbildungsqualität dürften in den 1950er Jahren sowohl in West- als in Ostdeutschland wesentlich anders als in den 1980er Jahren gewesen sein. Hinzu kamen damals häufig (und was heute auch wieder aktuell ist) Personalmangel und hoher Krankenstand. Und die Überschrift suggeriert auch, dass die Mehrheit der DDR-Kinder in Wochenkrippen betreut wurde, was auch nicht korrekt ist.
Es fehlt eine vergleichende Untersuchung zu der Entwicklung von Tageskrippen- und Tageskindergärten in der DDR und BRD in den Jahren 1950 bis 1990 und es fehlt vor allem die Untersuchung des familiären Hintergrunds.
Die Blogggerin „bloggahontas“, selbst ein Wochenkrippenkind, setzte sich 2018 mit einem Bericht über Wochenkrippen im Deutschlandfunkkultur auseinander und kommt zu dem Schluss: „ja, ich bin herzlos aufgewachsen, jedoch lag das an meiner gewaltbereiten und alkoholschwangeren Familienidylle. Es kann Betroffene geben, die dieses Leid wirklich spürten. Jedoch trifft dies nicht auf alle Wochenkrippen-Kinder zu. Mich stört, dass in keinem Absatz darauf hingewiesen wird, dass es so sein kann, aber nicht wie beschrieben sein muss.“[10]
Die staatlich organisierte Kinderbetreuung in der DDR mit ihren Ganztagskrippen, -kitas und -schulen ist mittlerweile Geschichte. Interessant ist, dass seit den 2000er Jahren in der Bundesrepublik die Forderung nach Ganztagskrippen ab dem 2. Lebensjahr, -kitas und -schulen immer lauter wird, sei es, weil manche Parteien dadurch die soziale Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Kindern verringern wollen, sei es, dass viele Mütter nicht mehr Hausfrau spielen, sondern arbeiten wollen, sei es auch, weil es sich die bundesdeutsche Wirtschaft nicht mehr leisten kann, auf Fachkräfte zu verzichten, die zwar eine qualifizierte Ausbildung haben, dann aber der Kinder wegen zu Hause bleiben oder bleiben müssen, weil es keine angemessenen Kinderbetreuungsmöglichkeiten gibt.
Das Foto stammt aus dem Fotoarchiv des WF aus dem jahr 1954. Das Findbuch verzeichnet nur lakonisch „Kinderheim“.
[1] Ulrike Stary: Wochenkrippen und Kinderwochenheime n der DDR, 2008, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, 2018: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/262920/wochenkrippen-und-kinderwochenheime-in-der-ddr/#footnote-target-2 (Abruf: 10.12.2023)
[2] ebd.
[3] Ulrike Stary: Frühkindliche Erfahrungen in Wocheneinrichtungen“, 2020, https://wochenkinder.de/wp-content/uploads/2020/08/Ute-Stary-Fr%c3%bchkindliche-Erfahrungen–in-Wocheneinrichtungen-2020.pdf (Abruf 10.12.2023)
[4] WF-Sender Nr. 7, 23. Februar 1955, S. 3.
[5] WF-Sender Nr. 31, 17. August 1955, S. 3.
[6] WF-Sender Nr. 22, 6. Juni 1956, S.4.
[7] WF-Sender Nr. 42, 15. November 1968, S.7.
[8] Vergl. WF-Sender Nr. 30, 4. August-Ausgabe 1970, S.7.
[9] Tagesspiegel vom 4. Juni 2023, https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/das-krippensystem-der-ddr-viele-leiden-unter-depressionen-und-angststorungen-9905777.html (Abruf 11.12.2023)
[10] Huch, Wochenkrippen-Trauma fehlt – Bloggahontas (wordpress.com) ,Beitrag vom 23.1.2018 (Abruf: 13.12.2023)