Fundstücke aus dem Landesarchiv Berlin, Folge 9

Fundstücke aus dem Landesarchiv Berlin, Folge 9

Siemens liegt im britischen Sektor, aber …

Während Herr Fricke, Leiter der gerade in Demontage befindlichen FAO und die Planung eines technischen Büros unterstützend, noch glaubte, man könne einfach in Berlin die Forschungs- und Entwicklungsabteilung der nach Leningrad verlagerten FAO aufrechterhalten, hatten die sowjetischen Offiziere, die die Gründung des „Technischen Büros für elektrische Nachrichtentechnik“  in den Räumen der FAO unterstützten, andere Ziele, für sie spielte das neue Werk in Leningrad, dass dort aus den demontierten Anlagen der Apparate- und Spulenfabrik entstehen sollte, keine Rolle.

Am 28. August waren die Pläne für das Büro soweit ausgereift, dass bereits über die Aufgabenverteilung gesprochen wurde. Die allgemeine Geschäftsleitung sollte Fricke übernehmen, die Entwicklungsabteilung Kluge und die Fabrikationsleitung Rudolf Müller, – der Müller, der im Mai mit dem 7 Aufrechten die Personalakten nach Nazis durchwühlt hatte. Müller war von den drei Herren als einziger KPD-Mitglied. Verhandlungspartner auf sowj. Seite waren Oberstleutnant Pleschkow, Oberstleutnant Golubzow und Major Brandt, wobei man davon ausgehend kann, dass die Herren zwar alle eine Uniform trugen, aber in Wirklichkeit Fachleute aus sowj. Ministerien oder wissenschaftlich-technischen Einrichtungen waren[1]. Und je höher die zivile Position, umso höher war auch der verliehene Offiziersrang.
Für die geplante Fabrikation wurde den sowj. Besprechungspartnern eine Liste mit Maschinen und Geräten überreicht, die möglichst nicht mehr abtransportiert, sondern in das neue Büro übernommen werden sollten.[2]

Schon am folgenden Tag gab es die nächste Besprechung. Erneut wurden Maschinen- und Gerätelisten übergeben, da von der des Vortages nur 4 Wickelmaschinen für den Verbleib in der FAO freigegeben worden waren. Vom KWO sollte eine Presse für das Ausprobieren von Pressformen übernommen werden.

Am Vortag war auch besprochen worden, dass eine Aufstellung des zu übernehmenden FAO-Personals bis zum 1.9.45 vorgelegt werden sollte. Erwähnt wurde dabei auch, dass man bei Mix & Genest in Schöneberg versuchen wollte, weiteres Personal anzuwerben und dass es von sowj. Seite auch eine Liste mit Wunschkandidaten von Siemens gebe. Diese Siemens-Aufstellung mit 20 Namen wurde nun am 29.8. Fricke und Kluge überreicht. Bis wieder funktionierende Verkehrsverbindungen zwischen Siemensstadt und Schöneweide hergestellt sein würden, sollte die Siemens-Einheit in Spandau arbeiten, „jedoch bezüglich Arbeitseinsatz und sonstiger organisatorischer Fragen bereits von der neuen Firma gesteuert werden. Auf den Hinweis, dass die Liste nur 4 für Entwicklungsarbeiten brauchbare Fachkräfte enthalte, wird mitgeteilt, daß weitere Ingenieure von Siemens genannt werden sollen.“[3]

Damit taten die sowj. Gesprächspartner deutlich kund, dass das neu einzurichtende Büro keineswegs eine Entwicklungsabteilung für das Leningrader Werk, sondern eine Art Pool für Drahtnachrichtentechnik-Fachleute werden sollte, so wie das im August gegründete LKWO als Expertenpool auf dem Sektor Röhrentechnologie gedacht war.

Fricke und Kluge sollten Kontakt aufnehmen mit den Ingenieurstab im „Ingenieur-Büro bei der technisch-russischen Regierungskommission“, der sich im brit. Sektor in Siemensstadt befand, und fuhren deshalb am 30. August nach Siemensstadt. Allerdings dauerte die Fahrt dorthin so lange, dass alle in Siemensstadt schon nach Haus gegangen waren. Fricke und Kluge hinterließen einen Brief mit der Aufforderung, zum nächsten Tag jemanden mit einer vollständigen Liste der Siemens-Ingenieure, die gewillt waren, in dem neuen Büro mitzuarbeiten, nach Oberschöneweide zu schicken. Der 31.8. verstrich und niemand tauchte mit der verlangten Aufstellung auf. In der Besprechung am selben Tag zwischen Pleschkow, Golubzek, Brandt auf der einen Seite und Fricke, Kluge, „Müller (zeitweise)“ auf der anderen Seite wurde vorgeschlagen, „dem Leiter des Ingenieur-Stabes von Seiten des russischen Leiters der neuen Firma schriftlich mitzuteilen, dass der Ingenieur-Stab als ganzer in die Firma aufgenommen ist uns seine Weisungen arbeitstechnischer und verwaltungsmäßiger Art von den Geschäftsleitern entgegen nimmt.“[4]
Leider verraten die überlieferten Akten nicht, von wem dieser Vorschlag kam, ob er durchgeführt wurde und wie viele Ingenieure letztendlich bei dem neuen wissenschaftlich-technischen Büro in Oberschöneweide wirklich anfingen. Laut einer Aufstellung des Belegschaftsstands nach Sektoren vom 4.12.1946 kamen 43 von den insgesamt 991 Belegschaftsmitglieder aus dem britischen Sektor, davon 12 aus Charlottenburg und 22 aus Spandau. Aus dem Bezirk Wedding, der dicht an Siemensstadt liegt, kamen weitere 25 (darunter könnten aber auch ehem. Mitarbeiter von Osram gewesen sein). Aus Tiergarten kamen nur 2, aus Wilmersdorf 7 und aus Reinickendorf 5. Diese Zahlen deuten darauf hin, dass wohl doch einige Siemens-Mitarbeiter eine Tätigkeit in Oberschöneweide aufgenommen hatten. Als es im Februar 1949 beim NEF zu Massenentlassungen wegen schlechter Auftragslage und der nahenden Fusion mit dem OSW kam, wurden auch zwei Konstruktions-Ingenieure und ein Normingenieur, alle noch in Siemensstadt wohnend, entlassen, außerdem sowohl ein Fertigungsingenieur und ein ‚normaler‘ Ingenieur aus Spandau. [5]

Aus Schöneberg-Friedenau kamen nur 13 Mitarbeiter, offensichtlich war der Versuch, Personal bei Mix & Genest zu akquirieren, nicht sehr erfolgreich verlaufen, und das, wo die Sowjets doch vor dem Eintreffen der Amerikaner in Berlin auch diese Firma gründlich demontiert hatten.

Weitere Besprechungen erfolgten am 10.9. und 18.9.1945. Von sowj. Seite waren jetzt nur noch Oberstleutnant Golubzow und Kapitän Stipakow als Dolmetscher die direkten Ansprechpartner, aber Pleschkow und Brandt wurden weiterhin im Verteiler aufgeführt. [6]

Bei den Besprechungen ging es vorwiegend um die maschinelle Ausstattung, aber auch um organisatorische Probleme wie z.B. die Reparatur des Kesselhauses, das für die Heizung aller Gebäude auf dem Gelände Ostendstraße zuständig war und unter sowj. Kommando stand.

Am 18.9. wurde von sowj. Seite auch schon eine recht detaillierte Aufgabenbeschreibung vorgelegt. Insgesamt sollten 6 Sachgebiete beackert werden, für die auch jeweils ein sowj. Verbindungsoffizier und auch schon detaillierte Aufgabenstellungen benannt wurde.
I. Vermittlungstechnik, Verbindungsoffizier: Major Ligikow;
II. Übertragungsgeräte, Verbindungsoffizier: Kapitän Stipakow;
III. Messgeräte, Verbindungsoffizier: Major Stein;
IV. Piezo-Gerät, Verbindungsoffizier: Major Sawkin;
V. Zeichnungsregistratur, Verbindungsoffizier: Major Semenow;
IB. Elektroakustische Konstruktionen, Verbindungsoffizier: Major Sawkin.

Fricke wurde bei diesen Besprechungen immer ungeduldiger und wies jedes Mal darauf hin, dass der ungeklärte Status der neuzugründenden Firma erhebliche Probleme aufwerfe. „Für die Übergangszeit muss eine Möglichkeit gefunden werden, die anfallenden Rechnungen zu bezahlen. Es liegen bereits eine Anzahl von Rechnungen vor, weshalb die Einrichtung einer Kasse als besonders dringlich erachtet wird.“[7] Als Punkt 1 der Besprechung am 18.9. schreibt das Protokoll: „Es wird wiederholt auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die sich aus dem Fehlen einer rechtsfähigen Firma und aus dem Fehlen von Barmitteln für die Geschäftsführung ergeben und die Frage gestellt, ob sich die allgemeine Lage in Bezug auf die beabsichtigte Institutsgründung geändert habe. Herr Oberstleutnant Golubzow erklärt, dass sich an der Tatsache, im Hause das vorgeschlagene Institut entstehen zu lassen, nichts geändert habe. Es würde nur noch etwas Zeit erfordern, […] In der Zwischenzeit würden Wege gefunden werden, um trotzdem die notwendigen Vorhaben, wie Reparaturen usw. finanzieren zu können. Beispielsweise wird der Geschäftsleitung ein größerer Vorschuss zur Verfügung zu stellen sein, der in bestimmten Abständen zwischen russischen und deutschen Dienststellen abgerechnet wird“ [8]

Also musste sich Fricke in Geduld üben, auch wenn es ihm sicher nicht leicht fiel, aber gelangweilt haben dürfte er sich die Zeit über nicht, denn es gab noch sehr, sehr viel zu regeln, bis das NEF endlich seine Arbeit aufnehmen konnte.
(Fortsetzung folgt)

Das Foto zeigt einen Teil des Maschinenraums des NEF im Frühjahr/Sommer 1946.

[1] Vergl. Johannes Bähr, Die Betriebe Sowjetischer Aktiengesellschaften (SAG) in Berlin 1945/46-1953, n: Berlin in Geschichte und Gegenwart: Jahrbuch des Landesarchivs Berlin – 1996. – 1996, (1996), S. 183-208, S. 186.

[2] Vergl. Protokoll der Besprechung vom 28.8.1945, in: LAB Rep C404, Nr.77

[3]  Vergl. Protokoll der Besprechung vom 29.8.1945, in: LAB Rep C404, Nr.77

[4] Protokoll der Besprechung vom 29.8.1945, in: LAB Rep C404, Nr.77

[5] Vergl. Belegschaftsstand am 4.12.46, in: LAB Rep. C404, Nr.109.

[6] Vergl. Protokolle der Besprechungen vom 10.9.1945 und 18.9.1945, in: LAB Rep C404, Nr.77

[7] Protokoll der Besprechung vom 10.9.1945, in: LAB Rep C404, Nr.77.

[8] Protokoll der Besprechung vom 18.9.1945, in: LAB Rep C404, Nr.77.

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