Brigadebücher im Industriesalon – Teil 4

Brigadebücher im Industriesalon – Teil 4

Brigadebücher im Industriesalon – Teil 4

Zu den schweren Fehlern nach der Wiedervereinigung gehört das Desinteresse des Westens an den Lebensverhältnissen in der ostdeutschen Republik vor 1989. Manche Wut bei älteren Menschen speist sich heute aus dieser Missachtung ihres gelebten Lebens. Dabei gab und gibt es viel zu erzählen.
Was stiftete die Geborgenheits- und Zusammengehörigkeitsgefühle, die viele nach 1989 schmerzlich vermisst haben? Dazu haben wesentlich die Brigaden in den Betrieben beigetragen.
Sie waren zwar auch Überwachungsinstrumente der Partei – und doch eine eigene Welt.“[1] lautet der Einleitungstext zu einem Feature des Deutschlandfunks vom 28. Juli 2021 über „die Welt der Brigaden in der DDR“.

Die Ambiguität des sozialistischen Alltags zwischen Enge und Gemeinschaft, Pflicht und Spaß, offizieller Linie und realer Alltagserfahrung wird in den Brigadebüchern teilweise greifbar.

In einigen frühen Brigadebüchern wie z.B. dem der Brigade Käthe Duncker aus dem KWO wurden auch öfters Klagen über arbeitsunwillige Brigademitglieder festgehalten, die die Planerfüllung und damit die Prämien gefährdeten. Erstaunlicherweise schafften es diese Brigaden meist trotz arbeitsunwilliger Kolleginnen oder hoher Fehlzeiten durch vermehrten Arbeitseinsatz der restlichen Brigademitglieder die Planerfüllung zu sichern, was etwa den Eindruck entstehen lässt, dass bei dem vorgeschriebenen Arbeitspensum noch Luft nach oben bestand.

In den 1970er Jahren ließen diese Klagen nach. Ob sich nun alle plötzlich wirklich für die Planerfüllung einsetzten oder die BGL verlautbaren hatte lassen, dass Kommentare dieser Art ihrer Meinung nach nicht ins Brigadebuch gehörten, ist nicht bekannt.
Was aber immer wieder auftaucht, vor allem in den Protokollen der Gewerkschaftsversammlungen, sind Beschwerden über die Arbeitssituation, kaputte und/oder völlig veraltete Maschinen, Materialmangel und die schlechten baulichen Verhältnisse, sei es am Arbeitsplatz, seien es die sanitären Anlagen.
So findet sich im Brigadebuch des Kollektivs aus dem Jahr 1981 ein nicht namentlich gekennzeichneter Brief an die Kollegen im Kollektiv, in dem der gewaltige Arbeitsaufwand für das Kollektiv beschrieben wird bei der Entwicklung und Herstellung des neuartigen Bauelements L110C. „Mit dem Bauelement L 110 C hat unser Werk zwar technologisch den Anschluss an die Spitzentechnologien im Kombinat gefunden, jedoch die Voraussetzungen für eine solche Fertigung sind im Wesentlichen auf dem Stand von 1972 geblieben.[2] Eine Feststellung, die vermutlich nicht nur die Arbeitssituation im Diodenwerk betraf.
Selten, aber vorhanden in einigen Brigadebüchern ist auch Kritik an der Geschäftsleitung des Werks. So äußerte der Kollektivleiter des Kollektivs „Fototron“ in einem handschriftlichen Schreiben an die Kollektivmitglieder vom 8. Oktober 1979 die kritische Feststellung, dass die Werkleitung und das Direktorat für Entwicklung kurzsichtigerweise andere Prioritäten gesetzt hätten, und kritisierte, dass diese Entscheidung von oben gefällt wurde. Das Kollektiv hatte nämlich 1979 in kleinere Räume ziehen müssen.

Zu den „Pflichten“ der Kollektive gehörten auch monatlich stattfindende Gewerkschaftssitzungen – jeweils nur für das Kollektiv – auf denen anstehende Probleme, Planaufgaben, der neue Betriebskollektivvertrag und etliches mehr, was das Arbeitsleben betraf, besprochen wurden.

Für diese Gewerkschaftsversammlungen gab es spätestens seit Anfang der 1980er Jahre vorgedruckte Formulare, in denen neben dem Namen des jeweiligen Kollektivs, dem Datum der Versammlung, Anzahl der Teilnehmer (Soll und Ist) und Anzahl der Redner in Stichpunkten die Diskussionsthemen festgehalten wurden. Diese Formulare gingen dann ausgefüllt zurück an die BGL, aber etliche Kollektive hefteten den Durchschlag in ihrem Brigadebuch ab.

Zumeist im Anschluss fand dann die „Schule der sozialistischen Arbeit“ statt zu verschiedenen Themen, die nur begrenzt Bezug zur Arbeit hatten. Hauptsächlich ging es dabei darum, den Kollektivmitgliedern die Segnungen des in der DDR praktizierten Sozialismus näherzubringen. Leiter dieser Gesprächskreise war meistens ein Kollektivmitglied, selten gab es mal Gastredner. Ab Herbst 1980 versuchte das Kollektiv „Fototron“, etwas anspruchsvollere Themen in dieser ‚Schule‘ zu behandeln wie z. B. die marxistische Philosophie. Das wurde ein Jahr lang praktiziert, dann kehrte man auch diesem Kollektiv wieder zurück zu den – vermutlich von der BGL festgelegten – Themen.

Bestandteil des ‚Kampfes‘ um den Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ waren auch kulturelle Unternehmungen des Kollektivs, wobei der Begriff Kultur nicht genauer definiert war. Auch ein Kegelabend oder ein gemeinsamer Besuch im Schwimmbad wurde darunter eingeordnet. Deutlich wird in den Brigadebüchern aber immer wieder, dass die Kollektive zwar angehalten waren, gemeinsam ins Theater oder zu anderen kulturellen Veranstaltungen zu gehen, es aber einen erheblichen Organisationsaufwand darstellte, die dafür nötige Anzahl an Eintrittskarten zu bekommen.

Das Gleiche galt für die gemeinsamen Feiern, z. b. zu Weihnachten. Auch hier war es ein Problem, dafür Plätze in einer Gaststätte zu bekommen. Hin und wieder fand dann notgedrungen selbst die Weihnachtsfeier in den Arbeitsräumen statt, weil kein Platz in einer Gaststätte zu bekommen war.
Glücklich waren die Kollektive, die Mitglieder mit einem Garten hatten und dort im Sommer mit ihrem Kollektiv Gartenpartys veranstalteten.

Die gemeinsamen Aktivitäten der Kollektive wurden auch vom Alter und Bildungsgrad der Kollektivmitglieder bestimmt. Bei Target gab es recht viele junge Leute im Kollektiv, die gerne Sport trieben und fast alle Kollektivmitglieder nahmen regelmäßig an dem jährlich stattfindenden WF-Sportfest teilnahmen. „Fototron“, in dem mehr als die Hälfte der Mitglieder Akademiker waren, pflegte eher Theater- und Opernbesuche, und nur wenige ließen sich bei den WF-Sportveranstaltungen blicken. Wenn man die Berichte im Brigadebuch von „Fototron“ liest, merkt man wenig Unterschiede zwischen dem Verhalten des Bildungsbürgertums in Ost- und Westberlin in jener Zeit. Für die Mitglieder der Frauenbrigade „Käthe Duncker“, die alle in der Produktion arbeiteten, war schon ein Museumsbesuch oder ein Theaterbesuch im Jahr ein kulturelles Highlight, generell werden gemeinsame Aktivitäten außerhalb des Werks sehr selten in den Brigadebüchern dieser Brigade erwähnt.

Die Abbildung stammt aus dem Brigadebuch des Kollektivs „Target“ für das Jahr 1988.[3]

(Fortsetzung folgt)

[1] Deutschlandfunk Hörfeature über Brigaden in der DDR: https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-welt-der-brigaden-in-der-ddr-diese-erfahrungen-moechte.976.de.html?dram:article_id=500948&utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

[2] Brigadebuch des Kollektivs Target, 1981, S. 99 (https://berlin.museum-digital.de/musdb/objekt_cha.php?objektnum=114891)

[3] Brigadebuch des Kollektivs Target, 1981, S. 5 (https://berlin.museum-digital.de/object/114908?&suinin=29&suinsa=861).

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