Geschichten vom Herrn A. (nicht K.), Folge 5 – Der Drache vor de Schatzkammer

Geschichten vom Herrn A. (nicht K.), Folge 5 – Der Drache vor de Schatzkammer

Der Drache vor de Schatzkammer

Eigentlich sollte es ein Verbesserungsvorschlag sein, aber ich habe nicht den Mut dazu, ihn Einzureichen. Er ist leider — Gott sei Dank — (Nichtzutreffendes bitte nach der Durchlesung streichen) nicht von mir. Es handelt sich hierbei um den Bau von Röhren mittels Zollstock. Ja, richtig, Zollstock. Auf ökonomisch-wissenschaftlicher Basis ist ergründet worden, da die Ausschusssenkung wie auch die Qualitätsverbesserung so garantiert ist. Aber weshalb viel Worte, lassen wir die Dinge selbst sprechen.

Es war einmal ein ganz junger Mechaniker. Der hatte schon als Kind den großen Wunsch, einmal im Leben Röhrenmechaniker zu werden. Nun war es soweit. „
Meesta, mir juckts in de Finga, wann kann ick die erste Röhre bauen“, das waren seine ersten Worte. Ist ja immer so bei den jungen Pferden, die wollen gleich die größten Hürden nehmen. Aber so geht’s ja auch nicht.  „
Zuerst gehen wir mal nach dem Keller, da wirst du mal sehen, wo die Garderobenschränke deiner Kollegen stehen“, sagte der Meesta.
„Für dich ist zwar keiner frei, aber laut Vorschrift musst du das wissen. Und danach gehst du zur Werkzeugausgabe und holst dir deine Werkzeuge.“
Mal eine Frage zwischendurch – haben Sie schon mal an der Werkzeugausgabe nach einer Schiebelehre gefragt? Nein? Na, dann lesen Sie weiter.
„lch möchte ’ne Schiebelehre!“
„Ham wa nich.“
„Na, jestern hat doch och eener eene jekriegt, sind die denn alle jeworden?“
„Nee, aber der von jestern hatte een Schein, wo der ,Alte‘ unterschrieben hatte.“
„Ach so, na denn wer ick man och zum Alten jehn.“

(Szene beim ,,Alten“)
„lck bin hier neu. Ick soll Röhren bauen in de Versuchswerkstatt und brauche och ne Schiebelehre. Der an de Ausjabe sitzt uff die Dinga wie der Drache vor de Schatzkammer.“
„ Was, Röhren wollen Sie bauen, nein, mein lieber Freund, dafür gibt’s keine. Die brauchen wir für die Präzisionsarbeit der Maschinenbauer und Werkzeugmacher. Wo kämen wir denn hin, wenn jetzt auch die Mechaniker mit einer Schiebelehre arbeiten würden. Nein, nein, das geht nicht.“
Dem jungen Mechaniker wäre bald das Gebiss aus dem Mund gefallen, weil er mit offenem Mund zugehört hat, so war die Wirkung von vier Sätzen.
„Gehen Sie man ruhig wieder in Ihre Abteilung, ich rufe Ihren Kostenstellenleiter schon an.“
Das nun folgende Gespräch dauerte 27 Minuten und 53 Sekunden. Hier wurde dieses Problem wissenschaftlich durchleuchtet. Die politische wie wirtschaftliche Seite wurden fachgemäß umrissen. Ersparen Sie mir bitte den gesamten Wortlaut des Telefongespräches. Es war erschütternd. Die letzten Worte jedoch waren: „Ich will mal nicht so sein und eine Ausnahme machen, aber ansonsten sind die Schiebelehren nur für die Werkzeugmacher da.“

(Persönlicher Nachsatz von mir: Lasst die Mechaniker ruhig mit Zollstock und Bandmaß arbeiten.)

Aus: HF-Sender Nr.1/2, 14. Februar 1952, S. 14

PS: Das de im Titel ist kein Tippfehler!

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